Die Gebetswoche für die Einheit der Christen erinnert mich an eine Begegnung in einem Zug vor vielen Jahren. Damals war ich noch ein junger Priester, und ich wollte die Reise nutzen, um eine Predigt vorzubereiten, zu beten und zu lesen. Ich hatte einen ruhigen Platz gegenüber einem ernst dreinblickenden Herrn gefunden und war nach einer kurzen Begrüßung sofort mit meiner Lektüre beschäftigt. Doch als der Schaffner eintraf, nutzte mein Vordermann die Unterbrechung, um mich anzusprechen: "Sind Sie ein katholischer Priester?", fragte er, und als ich dies bejahte, sagte er: "Ich bin ein evangelischer Pfarrer. Er wollte wissen, wo ich arbeite, und ich antwortete, dass ich Priester des Opus Dei sei, und als er noch einmal nachfragte, versuchte ich, ihm das Opus Dei in wenigen Worten zu erklären, als eine Einrichtung der katholischen Kirche, der hauptsächlich Laien angehören, die sich bemühen, Christus inmitten der Welt zu folgen. Seine Reaktion hat mich überrascht. Er sagte: "Das klingt für mich protestantisch". Das Leben der Christen in der Welt sei Luthers großes Anliegen gewesen, sagte er mir.
Wir kamen ins Gespräch. Er erzählte mir von seiner Arbeit. Er sagte, es sei harte Arbeit, weil nur wenige von ihnen ihren Glauben wirklich lebten. Dass ihr Bischof sie regelmäßig daran erinnerte, Gottes Gebote zu halten. Ohne das nützt das Beten nicht viel, worauf ich antwortete: "Das klingt für mich katholisch". Wir haben uns gut verstanden. Wir haben dann über die religiöse Situation in Österreich gesprochen und waren uns einig, dass in unserer Zeit ein entschiedenes Christentum notwendig ist. Alles andere wäre auf Dauer nicht tragbar.
Seitdem sind viele Jahre vergangen. In Mitteleuropa - wie auch in anderen wohlhabenden christlichen Ländern auf der ganzen Welt - vollziehen sich für die Kirche schwierige Prozesse: Rückgang der Berufungen, Krise der Familie, Stagnation in der Jugendarbeit, Missbrauchsvorwürfe und eine zunehmende Zahl von Kirchenaustritten. Jeder ist davon betroffen. Besonders auffällig ist sie in den großen kirchlichen Einrichtungen, in den protestantischen Gemeinschaften und auch in der katholischen Kirche. Der Prozess, der bereits vor 40 Jahren erkennbar war, hat sich dramatisch weiterentwickelt und beschleunigt. Sie hängt mit dem raschen Wandel der Lebensbedingungen zusammen, aber nicht nur damit.
Die Menschen sind oft von der Arbeit, aber auch von den verschiedenen Einflüssen, Zielen und Lebensweisen einer weitgehend säkularisierten Welt absorbiert. Viele verlieren Gott aus den Augen und mit ihm zumeist auch etwas, das zum Fundament der christlichen Lebenseinstellung und Lebensgestaltung gehört. Nicht nur die Zahl der Teilnehmer an liturgischen Feiern ist rückläufig. In vielen schwindet die Glaubenspraxis, und die Integration der Kinder in das kirchliche Leben gelingt nicht mehr, obwohl sie im Allgemeinen noch getauft werden, Religionsunterricht erhalten und sich auf Erstkommunion und Firmung vorbereiten. Die Zahl der Gläubigen nimmt ab, die Zahl der christlichen Familien sinkt, der Religionsunterricht wird schwieriger, wenn er überhaupt noch stattfindet. Das öffentliche Leben verändert sich, ebenso wie die Gesetzgebung und viele andere Dinge, einschließlich der Bildung. Der Prozess der Säkularisierung betrifft also immer mehr Menschen. Anfangs war sie vor allem in städtischen Gebieten zu spüren, doch inzwischen sind auch ländliche Gebiete fast gleichermaßen betroffen. Selbst der einsamste Weiler kann Nachrichten und Einflüsse aus der ganzen Welt empfangen.
Sollen wir dieser Entwicklung tatenlos zusehen und sie hinnehmen? Seit Jahrzehnten gibt es unterschiedliche Lösungsansätze, Debatten und sogar Spannungen innerhalb der katholischen Kirche, bis hin zur Spaltung der Kirche. In diesem Zusammenhang sind auch Hinweise auf andere christliche Konfessionen nicht zu übersehen.
Einige Reformversuche der letzten Jahrzehnte ähneln denjenigen des liberalen Protestantismus. Anpassungen an die heutigen Vorstellungen sind erforderlich. Einige Fragen der Doktrin und der Ethik, insbesondere der Sexualmoral, werden erörtert. Das priesterliche Amt solle auch Verheirateten und Frauen offen stehen, wenn die Notwendigkeit dafür unbestritten sei. Das hierarchische Amt wird als reformbedürftig angesehen. Das Ziel ist gewissermaßen ein modernes Christentum. Die Missbrauchskrise dient als Rechtfertigung und Druckmittel. Papst Franziskus hat zum Synodenprozess in Deutschland, wo diese Positionen massiv unterstützt werden, klar Stellung bezogen und zu einer echten Neuevangelisierung aufgerufen.
Aber es gibt auch andere Ansätze. Einige Kirchen füllen sich wieder. Es gibt auch Klöster mit Berufungen und Gemeinschaften, die wachsen. Die Bedeutung des Gebets wird wiederentdeckt, und insbesondere die eucharistische Anbetung hat sich in den letzten Jahren wieder verbreitet. Der Empfang des Bußsakraments, der in den letzten Jahrzehnten an einigen Orten und in einigen Regionen fast völlig verschwunden war, wird in einigen Kirchen und Klöstern wieder angeboten und als große Hilfe angesehen. Es werden neue Wege der Glaubensvermittlung gesucht. Es wird immer deutlicher, dass bei der Vorbereitung auf die Erstkommunion und die Firmung die Eltern genauso wichtig sind wie die Kinder, oder fast noch wichtiger als die Kinder.
In diesem Panorama ist es interessant festzustellen, dass eine ganze Reihe von Initiativen und Impulsen von anderen Konfessionen ausgehen. Die Alphakurse, die in der anglikanischen Kirche entstanden sind, finden mit gewissen Anpassungen ihren Platz in der katholischen Kirche. Das Gleiche gilt für das Bemühen um die Förderung der Jüngerschaft, das bei den evangelikalen (evangelikalen) Christen besonders ausgeprägt ist. Das "Gebet des Herzens" aus der orthodoxen Tradition ist für viele eine wertvolle Ermutigung. Bei der Bildung von christlichen Familien als "Hauskirchen" dienen evangelische Praktiken als Anreiz. Nicht zu vergessen sind die Impulse, die von der zunächst überwiegend protestantischen Pfingstbewegung oder von den Jugendfestivals in Taizé ausgehen. Auch die Pro-Life- und Pro-Familien-Bewegung oder der Kampf gegen die Pornographie in den USA sind erwähnenswert.
Mit Blick auf diese Zusammenhänge erhält das Plädoyer für die Einheit der Christen eine besondere Note und verbindet es zugleich mit Papst Franziskus, der zum Handeln "auf dem Weg nach draußen" aufruft. Dies war von Anfang an sein großes Anliegen. Sie ist bereits in seiner ersten Enzyklika Evangelii Gaudium zu finden. Dies waren die Themen, die er in seinen Reden vor dem Konklave ansprach. Und das ist vielleicht auch die Hoffnung, die ihn dazu gebracht hat, die Welt zu einem synodalen Prozess einzuladen, trotz aller Risiken, die dies mit sich bringen kann. Im Grunde geht es wohl darum, das zentrale Ziel des Zweiten Vatikanischen Konzils zu verfolgen: dass alle Getauften und Gefirmten den Wunsch haben, Christus in ihrem Herzen zu tragen und ihn zu den anderen zu bringen. Das Gebet füreinander und der Dialog miteinander sind von großer Dringlichkeit und bedeuten eine große Hoffnung!
Emeritierter Bischof von Sankt Pölten, Österreich.