Der neue Mensch ohne Natur?
Leib - Liebe - Lust - was wäre schöner? Und doch finden sich gerade darum "ungeheuerliche Kriege statt in Zusammenhang mit (kleinen) Fragen der Theologie, Erdbeben der Erregung (....). Es handelt sich nur um Fingerbreite, aber die Breite eines Fingers ist alles, wenn das Ganze in der Waagschale liegt. Wenn man eine Idee abschwächt, wird gleich die andere machtvoll". (Chesterton)
Um welche Ideen geht es? Um die Natur des Menschen. Ist der Mensch ein Dämon, der sich selbst schützen kann? In der älteren Sprache meint er eine "freie Rede", die von ihm selbst nicht so richtig wahrgenommen wird. Nicht einmal mit seinem eigenen freien Willen.
Jüngst nach dem Synodalen Weg Anfang Oktober 2021 meldete sich ein Kardinal (übersetzt: eine Türangel) zu Wort: Aussagen über den Menschen gehörten zur "Dispositionsmasse" des Christentums. Sie sind nicht "de fide definita", über den Glauben definiert, sondern veränderbar. Auch eine neue Ethik?
Ethik kommt von ethos, dem Weidezaun. Muss der frühere Weidezaun für Sexualität neu entdeckt werden? Die erstaunlichen Aussagen in Forum IV über die Geschlechtlichkeit wollen den Zaun überhaupt aufmachen; eigentlich könnte ihn jeder abstecken. Brauchen wir ihn überhaupt noch? Diese "neue" Sexualethik wurde von zwei weiteren Rednern, darunter ein Keks, deutlich zum Ausdruck gebracht: Die endgültige Schlussfolgerung ist, dass nur der Mensch mit seiner individuellen Freiheit in der Liebe gefunden werden kann. Die Natur = das Licht, das Gesetz, das Naturgesetz, die Landschaft, sind bestenfalls Vorschläge, die aber durch Überwindung verändert werden können. Heißt das nun: Der Leib ist nur Rohmasse meines Willens? Erstaunlich: Natur und Bio sind neuerdings in aller Munde, sie sollen geschont, wieder aufgepäppelt, nur eben nicht vom Menschen verändert werden. Was ist mit den Menschen los? Nein, ich danke Ihnen. Aber bei uns selbst soll Natur ausgespielt haben? Auch leib-lose Liebe? Unnatürliche Liebe? Nein, so war's nicht gemeint, hört man gleich. Aber wie dann? Schauen wir uns das Schauspiel der Irrungen und Wirrungen an.
Vorsicht: "Die Verblendung des Geistes ist die erstgeborene Tochter der Unzucht". So Thomas von Aquin. Die scheinbar revolutionäre Idee ist eine Transformation: die Trennung von Natur und Mensch. Das ist keineswegs neu oder postmodern, sondern wird schon seit langem formuliert. Auch seine Abwege sind sichtbar, und sie sind auch schon lange in der Kritik. Und sie sind widersprüchlich.
Mensch aus lauter Freiheit?
"Es ist die Natur des Menschen, keine Natur zu haben". Seit knapp 600 Jahren gibt es die berühmte Oratio de hominis dignitate (1486) Picos della Mirandola darin: Gott selbst gibt Adam (der übrigens ohne Eva antritt) die Freiheit gänzlicher Selbstbestimmung. Während alle Geschöpfe ihre eigene Wirklichkeit als göttliches Gesetz in sich tragen, ist der Mensch als einziger gesetzlos geschaffen. Mitten in der Welt hat Adam auch seine eigene unerträgliche Macht über sich selbst und über alle anderen Mitglieder der menschlichen Rasse zum Ausdruck gebracht. Noch unerschrocken formuliert dies ein Machen, Haben, Unterwerfen der gesamten Schöpfung unter die Ordnung des einen Herrengeschöpfes. Er wird oft als der "zweite Gott" der ganzen Welt bezeichnet. Dieser "Gott, mit menschlichem Fleische umkleidet".[1]wird sein eigener Schöpfer.
Picos Entwurf menschlicher (= männlicher) Freiheit hat allerdings die Rückseite solcher Kraftsteigerung nicht im Auge; bleibt gänzlich naiv.
Erstaunlich ist freilich, daß umgekehrt trotz des Freiheitsrausches der Mensch von der Naturwissenschaft und Technik in die Zange genommen wurde.
Sonstiges: Die Natur als Maschine? Der "vermessene Mensch".
Die behauptete Macht erstreckte sich zunächst auf die äußere Natur (fabrica mundi): auf räumliche, materielle, den neuentdeckten Gesetzmäßigkeiten unterworfene Dinge, um "uns so zum Herren und Besitzer der Natur zu machen".[2] Heute kämpfen wir mit den Folgen.
Aus diesem "Herrschaftswissen" ergibt sich eine zweite Möglichkeit: Auch die "äußere" Seite des Menschen selbst wurde durch die in der Vergangenheit angewandten Methoden verändert - auf gebildete und sogar "skrupellose" Weise durch die "erfahrenen" Männer Leonardos und Dürers, auf deren Körper die Größe der vergoldeten Knochen gelegt wurde.[3] Als umfassende Ressource wird der Körper des Körpers im Triumph des geometrisch-mathematischen Denkens durch eine Maschine zerstört - die Mensch-Maschine von La Mettrie (1748). Der Menschmaschine fehlte nur das seelenvolle Auge, so in E. T. A. Hoffmanns Menschenpuppe Coppelia. Auch hier kämpfen wir gegen die Folgen, einen Transhumanismus, der Verschmelzung von Mensch und Roboter. Freiheit bedeutet, dass man frei ist, mit Chips und dem Gebrauch von Werkzeugen zu leben.
In der Tat ist die Natur seit etwa 500 Jahren eine Art mechanisches Werk, und auch der Mensch fungiert als natürliche Maschine unter anderen natürlichen Maschinen. Die Neurobiologie als neue Disziplin stärkt die in manchen Berufen sehr schwierige Frage: Denken ist nichts anderes als die Zerstörung von Gehirnzellen. Auch der Einwand, wenn alles determiniert sei, gelte das doch zuallererst für den Forscher selbst, stört dabei nicht. Ähnlich wie der Satz eines Nobelpreisträgers für Chemie, der Mensch sei nichts als Chemie. Die Freiheit wäre hier völlig verloren gegangen.
Stattdessen triumphiert sie wieder umgekehrt im Aufstand gegen das eigene Geschlecht. Eine Welt der Natur ist eine Welt der Freiheit.
Freiheit: Der denaturierte Mensch
Seit Judith Butlers "Gender Trouble" 1990 zielt die Kultur auf einen erstaunlichen Extrempol: eine Umgestaltung bis Auflösung des Körpers im Cyberspace, im virtuellen oder auch realen medizinisch-technischen Raum. Schon die Unterscheidung von Leib und Körper kann als Leitfaden für das Spannungsfeld dienen, denn die beiden deutschen Begriffe weisen bereits auf eine verschiedene Ich-Wahrnehmung hin. So wird Körper vorwiegend als quantitativ-mechanische Hülle verstanden, während Leib den immer schon beseelten, lebendigen Leib meint. Körper können sich verändern, verändern, verändern, sogar (in Teilen) anpassen - und so ungeniert zu "Mein Körper ist meine Kunst" werden. Der Körper wird die Quelle des Protests gegen eine Identität sein, die nicht von selbst existiert. Utopien der fließenden Identität meinen den totalen Selbstentwurf des "Ich".
Auch Geschlechtsleben wird "inszeniert", das Ich trägt die jeweilige geschlechtliche Maske - mit der Folge, dass "diese Maske gar kein Ich verbirgt" (Benhabib, 1993, 15). gender nauting ist angesagt: das Navigieren zwischen den Geschlechtern. Der Mensch ist seine eigene Software, jenseits von Leib und Geschlecht angesiedelt. In dieser Hinsicht geht die Gender-Debatte weiter: Sie würde bedeuten, dass das biologische Recht (sex) in ein kulturelles (kulturelles, soziales, gesellschaftliches, geschlechtliches) Recht (gender) umgewandelt wird. Statt Festlegung durch Natur wird willentliche Selbstwahl angeboten: Ist Frau immer schon Frau oder wer "macht" Frau zu Frau und Mann zu Mann? Widerstandslos, ja nichtig bietet sich der Leib als "vorgeschlechtlicher Körper" an. Ich weiß nicht, wovon ich rede.
Nun braucht es einen roten Faden durch diese Widersprüche. Mit anderen Worten: Es gibt keine Trennung von Natur, Kultur und Mensch. Einfacher: keine Trennung von Leib und Geschlecht, von Liebe und Dauer, von Lust und Kindern.
So brauchen wir eine Kritik der halbierten, auf Mechanik reduzierten Natur, aber auch der halbierten, auf reine Konstruktivität hin gelesenen Kultur.
Beim Menschen ist es genau andersherum: in Richtung des Planeten. Die menschliche Natur und vor allem die Kultur sind "in Bewegung". Die Größe der Natur ist, dass sie eigentlich nascitura heißt: die, die geboren werden will. Gerade die Natur sucht die freie Mitwirkung des Menschen an seinem "auf hin": daß er seine Ausrichtung bejaht und vollzieht. Auf den Ursprung hin ist das Geschöpf geschaffen, es trägt sein Merkmal, seine Heimat ist dort, woher es kommt.
Dies war bereits im Kern der Sprache zu lesen: Es ist Selbstverlust im anderen, es ist fleischgewordene Grammatik der Liebe. Leib ist Gabe, Geschlecht ist Gabe, ist Grund und Ur-Sprung des von uns nicht Machbaren, der Passion des Menschseins, der ungeheure Trieb nach Hingabe. Reich an dieser Zweiheit von Mann und Frau und arm durch sie - uns selbst nicht genügend, abhängig von der Zuwendung des anderen, hoffend auf die Lösung durch den anderen, die aus dem Raum des Göttlichen kommt und in ihrer höchsten, fruchtbaren Form dorthin zurückleitet (Gen 1,27f). Was im griechischen Denken ein "Glaube" ist, der freie Wille, ist im biblischen Denken die Herrlichkeit der beiden Hälften.
Geschlecht kann auch als eigenständiges "Geschlachtetsein" oder "Hälftigsein" betrachtet werden. Die Brutalität des Nur-Geschlechts, der "Fluß-Gott des Bluts (...) ach, von welchem Unbekannten triefend" (Rilke, 1980, 449), muß daher vermenschlicht werden. Leib ist ohne ein reizvolles, anderes Gegenüber schwer zu denken. Doch weder "Natur" (Biologie) noch "Kultur" (Egoismus) sind von "heil". Daher ist es entscheidend, den göttlichen Horizont zu kennen, die Weisungen zu kennen, die von ihm kommen. Erst dann kann man "sittlich handeln", das heißt, "der Ordnung des Seins in Freiheit entsprechen" (Thomas von Aquin).
Spannungsfeld Natur und Kultur
Der Gedanke der Selbstgestaltung des Menschen ist an sich weder sachlich falsch noch moralisch böse. Die Tatsache, dass die Menschen in der gegenwärtigen - und zugleich gefährlichen - Situation auch durch ihr eigenes Verhalten auf das Leben anderer Menschen einwirken, macht dies deutlich. Positiv: Er hat zwar nicht die gleiche reaktionäre Sicherheit wie ein Land, aber die Freiheit vom Instinkt, also die Freiheit für die Welt und für sich selbst - und: das volle Risiko der Freiheit und Selbstbestimmung. Die Freiheit ist auch der Schlüssel für die Verwaltung der Welt und der Menschheit. Der Mensch ist eine geistige Realität, getrennt von der "Natur" und der "Kultur" des Wandels: eine Welt, eine Zukunft, eine "Kultur". "Werde, der du bist", formuliert der orphische Spruch, aber was so einfach klingt, ist das Abenteuer eines ganzen Lebens. Abenteuer, weil es weder es weder eine "gußeiserne" Natur noch eine beliebige "Kultur" gibt, sondern beide in lebendiger Beziehung stehen: zwischen Grenze der Gestalt (dem "Glück der Gestalt") und Kultur ("dem Glück des Neuwerdens").
Ein Land hat seine eigene Gesetzmäßigkeit und darf nicht als solche handeln; daher ist seine von Natur aus sichere Sexualität frei von Schein und funktional und basiert auf einer einzigen, nicht-kommunalen Gesellschaft. Ein Mensch ist und hat seine eigene Gesetzmäßigkeit und muss als solche handeln: Sie ist nicht einfach naturhaft gesichert, vielmehr kulturell bestimmt und schambesetzt wegen des möglichen Mißlingens; außerdem ist sie nicht notwendig an Nachkommenschaft gebunden. In der Geschlechtlichkeit tut sich ein Freiraum für Glücken und Mißlingen auf, auf dem Boden der ungewöhnweichlichen Spannung von Trieb (naturhafter Notwendigkeit) und Selbst (der Freiheit). Fleischwerdung im eigenen Körper, seine Anverwandlung in den eigenen Leib, "Gastfreundschaft" (hospitalité, Levinas) gegenüber dem anderen Geschlecht sind die Stichworte. Es geht nicht um Rebellion, Neutralisierung, Nivellierung und die "Wachsamkeit" der Welt.
Aus diesem Grund ist das zweite Recht nicht nur ein kulturelles Recht, sondern auch ein Recht, das nicht nur eingeschränkt ist, sondern sogar verletzt wird. Nur: Geschlechtlichkeit ist zu kultivieren, aber als Vorgabe der Natur (was könnte sonst gestaltet werden?). Kultivieren heißt: weder sich ihr zu unterwerfen noch sie auszuschalten. Beides läßt sich an den zwei unterschiedlichen Zielen der Geschlechtlichkeit zeigen: der erotischen Erfüllung im anderen und der generativen Erfüllung im Kind, wozu allemal zwei verschiedene Geschlechter vorauszusetzen sind. Zum erotischen Recht des Menschen gehört das Kind (z.B. Fellmann, 2005). Und auch das Kind selbst ist kein Neutrum, sondern dient vielmehr als "Erfüllung" der eigenen Natur des Kindes im zweidimensionalen Wesen.
So wird Natur = nascitura: offen zur Freiheit
Anstelle einer verzerrten Natur ist Vorgabe und meint zugleich nascitura: ein Werden, eine Entfaltung der Anlage. In der Zwischenzeit bleibt die eigentliche Mechanik der Natur weit zurück, und in der Zwischenzeit bleibt die Konstruktion weit zurück.
"Mit der Herausforderung der Natur an den Menschen ist das Telos seines eigenen Lebens nicht nur verloren, sondern auch unbestreitbar. In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle Zwecke, für die er sich am Leben erhält, (...) nichtig".[4]
"Was die Neuzeit Natur nennt, ist im letzten Bestand eine halbe Wirklichkeit. Was sie Kultur nennt, ist bei aller Größe etwas Dämonisch-Zerrissenes, worin der Sinn immer mit dem Unsinn gepaart ist; das Schaffen mit der Zerstörung; die Fruchtbarkeit mit dem Sterben; das Edle mit dem Gemeinen. Und eine ganze Technik des Vorbeisehens, des Verschleierns und Abblendens hat entwickelt werden müssen, damit der Mensch die Lüge und die Furchtbarkeit dieses Zustandes ertrage".[5]
Auch aus der Lüge.
Was ist eine Person? Ein Doppeltes
Person meint ein Doppeltes - in sich stehen und sich übersteigen, auf hin. "'Person' bedeutet, daß ich in meinem Selbstsein letztlich von keiner anderen Instanz besessen werden kann, sondern mir gehöre (...), Selbstzweck bin." (Guardini, 1939, 94) In sich selbst stehen betont, daß ich mir mir ursprünglich und unableitbar selbst gehöre.
Doch ist Personsein kein stumpfer Selbstbesitz. Augustinus sprach von einer Selbstgehörigkeit, einer anima in se curvata, die in sich selbst abstürzt.[6] Vielmehr: Ich erwache in Begegnung mit einem anderen Ich, das sich auch selbst gehört und doch auf mich zugeht.
Erst in der Begegnung kommt es zu einer Bewährung des Eigenen, zur Aktualisierung des Ich, insbesondere in der Liebe. "Wer liebt, geht immerfort in die Freiheit hinüber; in die Freiheit von seiner eigentlichen Fessel, nämlich von sich selbst." (Guardini, 1939, 99) Daher kommt in die Selbstzugehörigkeit durch den anderen eine entscheidende, ja schicksalhafte Dynamik. Sie basiert auf der konstitutiven Spannung von Ich zum Du: in den Überschneidungen, Sich-Mitteilen, auch in der Lesbarkeit, immer auch in der Spannung zu Gott. In einer solchen Dynamik gibt es eine Selbstprüfung, die das neutrale subjektiv-objektiv-verbale Wissen etabliert, wie ein Stein auf einem Stein, und dies ist der Beginn einer Übereinstimmung: Person ist mit Person in Resonanz, und von ihr gibt es eine Resonanz und von ihr eine preisgegebene Antwortlose oder sogar eine Offenheit zum Unbewussten.
Hingabe an die Andersartigkeit des anderen
Im Christlichen verliert die Selbstgehörigkeit nicht ihre erstrangige Stelle, vielmehr läßt sie sich überzeugender begründen: "Hinübergehen" über sich, sich öffnen kann die Person nämlich, weil sie sich immer schon gehört. Diese müssen geändert werden, weshalb ein entscheidendes Zeichen der Modernität, die Autonomie, gefordert wird.
Das Personsein ist, wie wir es in Christus sehen, der Ausdruck eines ungleichen oder sogar verborgenen "Existentials": Die Existenz ist die Aktivierung des Selbstseins: "Der Mensch (ist) nicht eine Sache, die in ihm wächst. Er existiert vielmehr so, daß er über sich hinausgeht. Dieser Hinausgang geschieht schon immerfort innerhalb der Welt, in den verschiedenen Beziehungen zu Dingen, Ideen und Menschen (...); eigentlicherweise geschieht er über die Welt hinaus auf Gott zu". (Guardini 1939, 124)
Weshalb aber werde ich damit selbst nicht außer Kraft gesetzt? Denn auch das Gegenüber Person, also ebenso unter Selbststand und Hinausgehen über sich selbst zu denken ist. Dazu sind aber wesentlich nicht nur zwei Menschen, sondern zwei Geschlechter vonnöten - als gegenseitige unergründliche Fremdheit, unergründliche Entzogenheit, bis ins Leibliche, bis ins Seelische, bis ins Geistige hinein; gerade in der Geschlechtsliebe, die den Leib des anderen erfährt, geschieht das Transzendieren in die Andersheit des anderen Geschlechlechtes und nicht nur ein narzißtisches Sich-Selbst-Begegnen.
Erst im anderen Geschlecht ist wirkliche Andersheit, von mir nicht zu vereinnahmende, nicht mich selbst zurückspiegelnde Wahrnehmungen: Frau als bleibendes Geheimnis für den Mann. Wer dies als das Unglücklichste von allen ansieht, schaut vom Leben weg.
Es könnte möglich sein, alle Hindernisse zu überwinden, die die alte Genesis-Vision heute nicht einmal erwähnt, weil sich in der Kulmination der beiden Geschlechter doch am Grund der Begegnung die göttliche Dynamik abspielt, das ungestörte Leben der beiden Jugendlichen zu dem Bild geworden ist, für das alle Bilder geschaffen wurden? Und daß von daher das Sich-Einlassen auf das fremde Geschlecht die göttliche Spannung ausdrückt?
Nochmal das Doppelte in der Person: Selbstbesitz (Souveränität) und Hingabe schließen sich gerade nicht aus - weder in der göttlich-trinitarischen Beziehung noch in der menschlichen Liebe. Liebe ist Selbstverlust und Selbstgewinn in einem. Nicht ist der Mann Selbstand und die Frau Hingabe, wie eine Verzeichnung lautet. Im Menschlichen geben nicht zwei Hälften ein Ganzes, sondern zwei Ganze ein Ganzes. Jedes Geschlecht ist erstrangig von der Person getragen und von ihr ein Leben lang zu durchformen. Heutige Kultur neigt dazu, Selbstand zur Autonomie und Hingabe zur Preisgabe abzufälschen. Preisgabe wird sie, wo sie den anderen, die andere nur als Sexobjekt oder in einer "Rolle", nicht aber als Person, leibhaftig sieht. Im deutschen Sprachraum gehören die Worte "Freiheit", "Leben" und "Liebe" nicht unbedingt zu ein und demselben Wort. Wer das Buch zu einem "Lebensbeweis" macht, um der Selbstsucht anderer willen, unterschätzt das Leben. Aber wenn das Leben den Menschen erlauben würde, in sich selbst zu wachsen, wäre es immer vor allem anderen: das andere Recht, dies zu tun. Und die äußerste Provokation des biblischen Denkens geht sogar durch den Tod hindurch - in einen neuen Leib. Auferstehung des Leibes, meines Leibes, auch als Mann oder Frau, ist die Botschaft der Freude.
Letzter Schritt: Caro cardo
Deshalb ist Gottes Fleischwerdung die große Herausforderung - kann er ein Mann sein, geboren von einer Frau. Wäre das Ohr nicht so abgestumpft, wäre das eine Explosion. Der Sohn Gottes und Marias ist entgegen allen Idealisierungen leibloser Göttlichkeit die eigentliche Unterscheidung von anderen religiösen Traditionen, sogar vom Judentum. caro cardo - Fleisch ist der Angelpunkt. Hier kommt das Licht in ein neues, einzigartiges Licht (z.B. Henry, 2000) - bis hin zur leibhaften Auferstehung zu todlosem Leben. Auch Kirche ist als Leib gesehen, das Verhältnis Christi zur Kirche ist bräutlich-erotisch (Eph 5,25), und die Ehe wird zum Sakrament: zum Zeichen der Gegenwart Gottes in den Liebenden. Auch zu dieser Gegenwart im Ehesakrament muß das Geschlecht erzogen werden, aber nicht um seine Zähmung oder gar Brechung willen, sondern wegen seiner wirklichen und wirksamen Ekstase. Freilich: Das Glücken einer Ehe kann durch das Sakrament nicht garantiert werden, aber christlich angeben lassen sich die Elemente, unter denen die schwierige Balance gelingen kann: Du allein - Du für immer - von Dir ein Kind. Es handelt sich nicht mehr um ein ursprüngliches Naturphänomen, sondern um die schöpferische Überführung von Natur in kultivierte, angenommene, endliche Natur. Nie wird nur primitive Natur durch Christentum (und Judentum) verherrlicht: Sie ist vielmehr selbst in den Raum des Göttlichen zu heben, muss dort geheilt werden. Auch der Eros wird in den Bereich des Heiligen gestellt: im Sakrament. Auch Zeugung und Geburt werden in den Bereich des Heiligen gestellt: Sie sind paradiesisch verliehene Gaben (Gen 1,28). "Geschlecht ist Feier des Lebens". (Thomas Mann)
Die wirkliche menschliche Natur der Gottmenschen ist die Ursache der leidvollen menschlichen Natur. Ihm zu folgen heißt, die versehrte menschliche Natur in seinen Radius stellen, sich vollenden lassen, wo wir nur wechselnde Neigungen haben. Wo es angeblich keine allgemeine Natur des Menschen gibt, sondern nur "Freiheit", gibt es nur Entscheidungen von irgendjemandem zu irgendetwas, aber keine grundsätzliche Befreiung unserer Natur. Die Fleischwerdung Jesu wäre dann überflüssig, auch sein Tod, auch seine Auferstehung. Immer ziehen sie sich im Fleisch voll, warum? Simchat thora, Dein Gesetz ist meine Freude: das Gesetz meines Leibes, meines Lebens, meiner Lust, das der Schöpfer auf den Leib geschrieben hat. Nicht der freie Wille erlöst uns, sondern Seine Vorgabe.
Leib - Liebe - Lust: Alle drei Bausteine gründen in der Natur, werden in Kultur geformt, werden schön und menschlich in der persönlichen Beziehung: Ich meine Dich allein - für immer - freue mich auf unser Kind. Das ist die Antwort, die wir einander geben und die wir von dem Geliebten hören wollen. Aber diese Antwort wird überdreht, wenn sie nicht auf unsere Natur gegründet ist, nicht hoffnungsvoll geben wird in der Hoffnung auf göttliche Hilfe. Heute ist die Welt der Freiheit - der Freiheit - der Freiheit - der Freiheit bereits eine Cyberwelt: Es ist ein Ort, an dem es ein ständiges Verlangen gibt, ob virtuell oder nicht, ob real oder nicht, ob mit realen Menschen oder mit realen Menschen, ob mit Vinyldrucken, ob real oder nicht, ob mit Kindern oder nicht: Es geht nur um Forschung und Untersuchung. Liebe, die keine Dauer will, Lust, die mir selbst gilt, Leib, den ich selbst schnitze...: lauter Bruchstücke eines Ganzen, das den Sinn zerbricht.
Wir halten uns an das Ganze. Nochmals Chesterton: "Es ist leicht, Licht zu sein; leicht, ein Held zu sein. Es ist immer leicht, die Welt überhandnehmen zu lassen: schwierig ist, selbst die Vorhand zu behalten. Es ist immer leicht, Modernist zu sein, wie es leicht ist, ein Snob zu sein. In irgendeine dieser offenen Fallen des Irrtums und der Übertretung zu geraten, die eine Modeströmung und Sekte nach den andern dem Christentum auf seinen geschichtlichen Weg gelegt hatten - das wäre in der Tat leicht gewesen. (...) Sie alle vermieden zu haben, ist ein wirbelndes Abenteuer; und in meiner Vision fliegt der himmlische Wagen donnernd durch die Jahrhunderte - die langweiligen Häresien straucheln und fallen der Länge nach zu Boden, die wilde Wahrheit aber hält sich schwankend aufrecht".
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[1] Über die Würde des Menschen, übers. v. H. W. Rüssel, Amsterdam 1940, 49f. H. W. Rüssel, Amsterdam 1940, 49f.
[2] René Descartes, Discours de la méthode, 6.
[3] Vgl. den doppelsinnigen Titel: Sigrid Braunfels u. a., Der "vermessene Mensch". Anthropometrie in Kunst und Wissenschaft, München 1973.
[4] Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1971, 51.
[5] Romano Guardini, Der Mensch. Umriß einer christlichen Anthropologie, (unveröfftl.), Archiv Kath. Akademie München, Typoskript S. 45.
[6] Romano Guardini hat in diesem Zusammenhang auf die Gefahr der Selbstbestimmung hingewiesen; vgl. Guardini: Der religiöse Gehorsam (1916), in: ders., Auf dem Wege. Versuche, Mainz 1923, 15f, Anm. 2.: "Es widerspricht katholischem Geiste, viel von Persönlichkeit, Selbsterziehung usw. zu reden. Dadurch wird der Mensch beständig auf sich selbst zurückgeworfen; er gravitiert in sein eigenes Ich und verliert eben dadurch den befreienden Blick auf Gott. Das Beste ist, zu vergessen und auf Gott zu schauen, denn 'will' und 'möchte' der Mensch in der physischen Atmosphäre. [...] Nicht einmal die Seele ist so tief wie die Ethik. Was sie beherrschen und erfüllen soll, sind die göttlichen Tatsachen, Gottes Wirklichkeit, die Wahrheit. Darin geschieht, was aller Erziehung Anfang und Ende ist, das Herausheben aus dem eigenen Selbst".
Ratzinger-Preis 2021