Die Bibel ist eines der bekanntesten Bücher der Welt, und das schon seit Jahrhunderten. Und obwohl alle Katholiken mit ihr vertraut sind, ist es manchmal schwierig zu wissen, wie wir die Heilige Schrift in unserem Gebetsleben nutzen können. In diesem Interview, Raymond Studzinski hilft uns zu verstehen, wie wir die Bibel nutzen können, indem er einige der Fragen beantwortet, die sich uns stellen können, wenn wir den heiligen Text betrachten.
Raymond Studzinski ist Benediktinerpater, Herausgeber des International Journal of Evangelization and Catechetics und Leiter der Abteilungen für Pastoral- und Katechetikstudien an der School of Theology and Religious Studies der Catholic University of America. Er lehrt und publiziert zu den Themen religiöse Entwicklung und spirituelle Praxis. Eines seiner jüngsten Bücher ist "Lesen, um zu leben: Die sich entwickelnde Praxis der Lectio Divina (Zisterzienser Veröffentlichungen)".
Warum ist die Bibel ein gutes Buch zum Beten? Können wir sie alle nutzen?
-Das Gebet wird normalerweise als ein Gespräch mit Gott beschrieben. Der heilige Cyprian (256 n. Chr.) stellte fest, dass das Lesen der Bibel bedeutet, Gott zu erlauben, zu uns zu sprechen. Die Abschnitte, die wir lesen, werden Teil des Dialogs, den wir mit Gott führen, wenn wir beten. Ein anderer Vertreter der Alten Kirche, Origenes (185-234), betonte, dass die Bibel uns etwas zu sagen hat, egal auf welcher Stufe des geistlichen Lebens wir uns befinden. Wenn wir Anfänger sind, lehrt uns das Wort Gottes in der Bibel, die Tugenden zu leben und die Sünde zu meiden. Für diejenigen, die im geistlichen Leben schon weiter fortgeschritten sind, ist die Bibel eine Einladung zu einer tieferen Beziehung mit dem dreieinigen Gott.
Die Bibel hat eine sehr persönliche Botschaft für uns, unabhängig von unserem Niveau, wenn wir sie so lesen, als würden wir den Brief eines sehr engen Freundes lesen. Wenn wir langsam lesen und die Worte genießen, formt und formt uns die Bibel als Jünger des Herrn. So beginnen wir, die Welt und uns selbst aus der Perspektive Gottes zu sehen.
Wie können wir unterscheiden zwischen etwas, das von Gott kommt, weil er es uns sagen will, und einer subjektiven Interpretation, die wir selbst erfinden, wenn wir die Bibel lesen?
-Zur Zeit der frühen Kirche glaubten die Christen, dass derselbe Geist, der die Autoren der heiligen Texte inspiriert hat, auch in uns wirkt, wenn wir die Bibel lesen. Der heilige Paulus erinnert uns daran, dass die Früchte des Geistes "Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung" sind (Galater 5,22). Wenn diese Zeichen des Geistes nicht vorhanden sind oder wir uns dabei ertappen, dass wir Gedanken denken, die den Überzeugungen der christlichen Gemeinschaft zuwiderlaufen, haben wir bereits Anzeichen dafür, dass wir von etwas anderem als dem Heiligen Geist geleitet werden.
Die Heilige Schrift ist wie ein Spiegel, in dem wir unseren wahren Zustand reflektiert sehen, und sie dient auch als Maßstab für den Fortschritt in unserem Leben als Christen. Wenn wir die Heilige Schrift lesen, formt uns der Heilige Geist zu Menschen, die so lieben, wie Gott uns liebt.
Was sollen wir tun, wenn wir etwas in der Bibel nicht verstehen?
-Viele sehen Studienbibeln als nützliche Hilfsmittel für das Lesen der Heiligen Schrift an, weil schwierige Passagen in Fußnoten und Einleitungen erklärt werden, die jedem der Bücher, aus denen die Heilige Schrift besteht, vorangestellt sind. Christliche Leser lernen auch, nach tieferen Bedeutungen zu suchen, wenn der buchstäbliche Sinn nicht die richtige Interpretation zu sein scheint. Das Gebet, das die Bibellese begleitet, kann die Form einer Bitte annehmen, zu verstehen, was der Text uns über das Göttliche und über das Wachstum in der Nachfolge Christi mitteilt.
Wenn wir mit der Bibel beten wollen, wo fangen wir dann am besten an?
-Es ist üblich, dass wir einige Bücher der Bibel als leichter zu verstehen und in unserem Leben anzuwenden betrachten. Die Evangelien, die Paulusbriefe, die Propheten und die Psalmen sind Texte, die viele als Nahrung für ihr geistliches Leben nutzen. Wenn wir anfangen, das Lesen der Heiligen Schrift in unsere spirituelle Praxis einzubeziehen, sind diese Texte ein guter Ausgangspunkt. Auf diese Weise fungiert die Bibel als spiritueller Coach, der uns durch die grundlegenden Übungen im Leben eines Christen führt, die es uns ermöglichen, geistlich zu reifen.
Wenn man über die Bibel spricht, hört man oft den Begriff "Lectio Divina". Was ist damit gemeint?
-Die "Lectio Divina" (heilige Lesung) ist eine spirituelle Praxis, die aus der langsamen, meditativen Lektüre der Heiligen Schrift oder anderer geistlicher Klassiker besteht. Sie umfasst in der Regel vier Phasen:
- Das langsame Lesen eines kurzen Textes, um die Worte in sich aufzunehmen;
- Denken Sie darüber nach, was Gott dem Leser durch diesen Abschnitt mitteilt;
- Beten Sie, was der Text beschreibt oder aussagt;
- Denken Sie nach und ruhen Sie in der Gotteserfahrung, die diese Lesung vermittelt.
Dieser Praxis liegt die Überzeugung zugrunde, dass der Text dem Leser in seiner einzigartigen und persönlichen Situation etwas Besonderes zu sagen hat. Die Texte haben nicht nur eine wörtliche, sondern auch eine tiefe spirituelle Bedeutung. Diejenigen, die sich der Lectio Divina widmen, verbringen in der Regel zwanzig bis dreißig Minuten pro Tag mit dieser Praxis.
Was würden Sie jemandem sagen, der sagt: "Ich habe die Bibel schon viele Male gelesen, ich kann nichts mehr daraus lernen"?
-Wir lesen die Bibel nicht nur, um uns zu informieren, sondern auch, um uns zu bilden. Daher glauben die Leserinnen und Leser, dass biblische Texte nie ihre Kraft und Fähigkeit verlieren, uns auf unserem Glaubensweg zu verändern.
Die Bibel bietet dem Leser eine sakramentale Erfahrung der Begegnung mit dem Göttlichen. Er mag die Geschichte, die der Text beschreibt, bereits kennen, aber die heilige Geschichte wirkt weiter auf ihn und sein persönliches Leben. Was wir lesen, ist eine Schrift, die wir anwenden können. Es ist nicht etwas, über das man einfach nur nachdenkt, sondern das man verkörpern muss, und das erfordert die Arbeit eines ganzen Lebens.