Ein heute in Köln vorgestelltes Gutachten entlastet Kardinal Rainer Woelki vom Vorwurf der Pflichtverletzung im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs in seiner Diözese. Sie hat jedoch festgestellt, dass es in der Vergangenheit - zwischen 1975 und 2018 - 75 Fälle solcher Verletzungen durch Kirchenbeamte gab, von denen ein Drittel in die Zeit fiel, als die Diözese von dem verstorbenen Kardinal Joachim Meisner regiert wurde.
Sie von ihren Pflichten zu entbinden
Wegen dieser Pflichtverletzung hat Kardinal Woelki Weihbischof Dominik Schwaderlapp und Gerichtsvikar Günter Assenmacher von ihren Aufgaben entbunden. In einer Erklärung kündigte Weihbischof Schwaderlapp seinen Rücktritt vom Papst an; er räumte ein, dass "ich in meiner Pflicht zur Wachsamkeit und Kontrolle mehr und entschiedener hätte handeln müssen"; er sagte auch, dass er hätte überlegen müssen, ob er Missbrauchsfälle an Rom melden sollte. "Aber am meisten schäme ich mich dafür, dass ich zu wenig berücksichtigt habe, was die betroffenen Menschen fühlen und brauchen und was die Kirche für sie tun sollte.
Ein gehaltenes Versprechen
Kardinal Woelki erklärte nach der offiziellen Übergabe der Stellungnahme: "Die von Herrn Gercke erwähnten Fälle berühren mich zutiefst. Es handelt sich um Kleriker, die sich schuldig gemacht haben, Menschen, die ihnen anvertraut waren, Gewalt anzutun, und zwar in vielen Fällen, ohne dafür bestraft zu werden und - was noch schlimmer ist - ohne dass die von dieser Gewalt betroffenen Menschen ernst genommen und geschützt wurden. Dies ist eine Verschleierung. Mit diesem Bericht haben wir jedoch endlich ein erstes Versprechen eingelöst: aufzudecken, was geschehen ist, Licht in die Vertuschung zu bringen und die Verantwortlichen zu benennen".
Das Gutachten wurde von Kardinal Woelki in Auftrag gegeben und von einer unabhängigen, auf Strafrecht spezialisierten Anwaltskanzlei erstellt, um das kirchliche Handeln in Fällen von sexuellem Missbrauch zu untersuchen. Björn Gercke, der Hauptautor des Berichts - an dem zehn Anwälte seiner Kanzlei sowie zwei Spezialisten für Kirchenrecht beteiligt waren - erklärte auf einer Pressekonferenz, dass es bei der Studie nicht darum ging, den Sachverhalt selbst zu bewerten, sondern die Behandlung oder die Reaktion der kirchlichen Behörde.
Ein weiterer wichtiger Aspekt für das Verständnis des Umfangs des Gutachtens ist die Tatsache, dass es zwischen Oktober letzten Jahres und dem 15. März auf der Grundlage von 236 Personalakten sowie "zahllosen Sitzungsprotokollen", die ihnen zur Verfügung standen, durchgeführt wurde. Außerdem führte die Kanzlei zehn Interviews mit Personen, die an der Untersuchung des Sachverhalts beteiligt waren.
Angemessene Reaktionen?
Die grundsätzliche Frage, die durch das Gutachten geklärt werden sollte, war, ob die kirchliche Behörde - im Zeitraum zwischen 1975 und 2018 - bei Hinweisen auf möglichen sexuellen Missbrauch von Minderjährigen oder anvertrauten Personen (z.B. in Heimen) entsprechend der jeweils geltenden Regelungen angemessen reagiert hat, ob von einer Vertuschung gesprochen werden kann und ob dies in diesem Fall systembedingt ist.
Aus dem Bericht geht hervor, dass es in diesen 236 Fällen 202 "Angeklagte" und mindestens 314 Betroffene gibt. Von den Angeklagten sind die meisten (63 %) Geistliche und 33 % Laien (die restlichen 4 % sind Straftaten in "Institutionen"); von den Opfern waren 57 % männlich und 55 % unter 14 Jahre alt.
Fünf Kategorien
Hinsichtlich der Verstöße, die von den kirchlichen Behörden begangen worden sein könnten, werden in der Stellungnahme fünf Kategorien unterschieden: Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts, Verpflichtung zur Anzeige (bei den zivilen Behörden und der vatikanischen Kongregation), Verpflichtung zur Verhängung von Sanktionen, Verpflichtung zur Ergreifung von Maßnahmen zur Verhinderung von Missbrauch und Verpflichtung zur Betreuung der Opfer.
Nach Ansicht der Sachverständigen konnten in 24 Fällen Verstöße eindeutig festgestellt werden; in 104 Fällen kamen sie zu dem Schluss, dass derartige Verstöße zwar möglich sind, aber nicht abschließend geklärt werden können; in 108 Fällen kann festgestellt werden, dass (noch nach Aktenlage) keine Verstöße stattgefunden haben.
Die Schlussfolgerungen
Der Bericht kommt u.a. zu folgenden Schlussfolgerungen: In Fällen von Missbrauch durch Laien wurde schnell reagiert (z.B. Auflösung des Vertrags); es gibt keine Fälle von strafrechtlichen Verstößen (obwohl die Verfasser des Berichts erklären, dass sie ihn der Staatsanwaltschaft zur Prüfung vorlegen werden). In den 24 oben genannten Fällen können insgesamt 75 Verstöße gemäß der oben genannten Kategorisierung festgestellt werden.
Unabhängig von den Einzelfällen kommen die Experten zu dem Schluss: "Wir sind auf ein System mit mangelnder Kompetenzverteilung, mangelnder Rechtsklarheit, mangelnden Kontrollmöglichkeiten und mangelnder Transparenz gestoßen, das die Verschleierung unter Mitwirkung vieler Personen auch außerhalb des Bistums Köln ermöglicht.
Von einem "systematischen Verschweigen" seitens der Verantwortlichen im Kölner Bistum kann zwar nicht gesprochen werden, wohl aber von einem "systemimmanenten Verschweigen". Laut Gercke wurde weder nach einem Plan gehandelt, noch wurden "Anweisungen von oben" gegeben, sondern "ohne Koordination und ohne Plan". Aus diesem Grund bleibt das wahre Ausmaß des Missbrauchs und dessen Verschleierung unklar.
Einige Empfehlungen
Die Experten geben einige Empfehlungen ab, die sich als Forderung nach Professionalisierung zusammenfassen lassen, um dem Gesetzeschaos und der Unkenntnis der bestehenden Vorschriften sowie dem Mangel an Ausbildung zu begegnen: Einführung einheitlicher Vorschriften und vor allem kontinuierliche Schulung der Personen, die mit Verdachtsfällen zu tun haben, sowie ständige Überwachung und ein klares Sanktionssystem.
Ganz allgemein verweisen die Verfasser des Berichts auf die Tatsache, dass sich die kirchlichen Behörden lange Zeit mit Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch befasst haben, "weil der Täter seine priesterlichen oder kirchlichen Pflichten verletzt hat, aber nicht, weil er aus Sicht der Opfer als besonders schwerwiegend angesehen wurde".
Mehr persönliche Konsequenzen
Die ersten persönlichen Konsequenzen des Berichts waren jedoch nicht die Entlastung des Weihbischofs und des Gerichtsvikars von Köln. Am späten Donnerstagabend gab der Hamburger Erzbischof Stefan Hesse - von 2006 bis 2012 Leiter der Personalabteilung des Bistums Köln und von 2012 bis 2014 Generalvikar - in einer persönlichen Erklärung bekannt, dass er Papst Franziskus seinen Rücktritt eingereicht und um sofortige Ablösung von seinem Amt gebeten habe.
In der Erklärung betonte er, dass er immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt habe: "Ich habe mit vielen der Betroffenen Gespräche geführt und versucht, sie zu verstehen". Obwohl "ich nie an einer Vertuschung beteiligt war, bin ich bereit, meinen Teil der Verantwortung für das Versagen des Systems zu tragen", um Schaden vom Erzbistum Hamburg und dem Erzbischofsamt abzuwenden.
Entschuldigungen
Ein weiterer Kölner Weihbischof, Ansgar Puff, hat Kardinal Woelki ebenfalls gebeten, ihn von seinem Amt zu entbinden. Obwohl er in dem Bericht nicht namentlich erwähnt wird, wird darauf hingewiesen, dass ein "Leiter der Personalabteilung der Diözese" seine Pflicht zur Untersuchung von Kindesmissbrauch verletzt habe.
Der jetzige Weihbischof Puff war von 2012 bis 2013 als Nachfolger von Bischof Stefan Hesse in diesem Amt. In einer Videobotschaft, die am Freitag veröffentlicht wurde, sagte er: "Es tut mir sehr leid. Ich muss zugeben, dass ich der Aufgabe auch rechtlich nicht gewachsen war und mir nicht ganz klar war, was ich hätte tun sollen. Dafür möchte ich mich entschuldigen.