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Körper. Liebe. Wohin führt die Trennung zwischen Natur und Mensch?

Vortrag von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Ratzinger-Preis 2021, im Omnes Forum am 16. Dezember 2021.

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz-17. Dezember 2021-Lesezeit: 15 Minuten
Körper, Liebe, Vergnügen
Original-Konferenz auf Deutsch hier

Der neue Mensch ohne Natur?

Körper. Liebe. Und doch brechen gerade um diese Ideen "schreckliche Kriege über (kleine) Fragen der Theologie aus, Erdbeben der Hitze [...]. ...] Das sind nur Kleinigkeiten, aber eine Kleinigkeit ist alles, wenn das Ganze auf dem Spiel steht. Wenn eine Idee geschwächt ist, wird die andere sofort mächtig" (Chesterton).

Über welche Ideen reden wir? Ist der Mensch ein Chamäleon, das sich selbst ersetzen kann? In der älteren Sprache wird er als "Fremder" bezeichnet, der sich selbst nicht richtig kennen lernt. Er kennt nicht einmal seinen Körper.

Kürzlich, in Deutschland, nach dem Synodalweg, hat ein Kardinal (ein Wort, das "Scharnier" bedeutet) Anfang Oktober 2021 folgende Aussage gemacht: Die Aussagen über den Menschen gehören zur "Dispositionsmasse" des Christentums, weil sie nicht "de fide definita", vom Glauben her definiert, sondern veränderbar sind. Stehen wir also vor einer neuen Ethik?

Ethik kommt von EthosIst es notwendig, den Zaun, den wir um die Sexualität herum hatten, erneut zu markieren? Die überraschenden Äußerungen zur Sexualität auf dem Forum IV (des Synodalweges in Deutschland) wollen einfach nur den Zaun öffnen; eigentlich könnte ihn jeder markieren. Brauchen wir ihn noch? Diese "neue" Sexualethik wurde von zwei weiteren Rednern, darunter ein Bischof, mit Freude begrüßt; endlich sei der Schritt getan: In der Liebe komme es nicht nur auf den Menschen mit seiner individuellen Freiheit an. Die Natur - also der Körper, das Geschlecht, die empfangene Veranlagung - sind bestenfalls Vorschläge, die man diskutieren oder verändern kann. Heißt das, der Körper ist nur das Rohmaterial für meinen Willen? Es ist erstaunlich: Natur und Bioökologie sind heute in aller Munde; sie müssen geschützt werden, sie müssen gepflegt werden, aber sie dürfen unter keinen Umständen vom Menschen verändert werden. Gentechnik? Nein, danke, aber sollten wir davon ausgehen, dass die Natur nichts mehr zu sagen hat? Also, körperliche Liebe? Natürliche Liebe? Nein, Sie werden gleich hören: Das haben wir nicht gemeint. Aber was dann? Schauen wir uns das Spektakel der Irrungen und Wirrungen an.

Vorsicht: "Die Besessenheit des Geistes ist die erstgeborene Tochter der Lust", sagt Thomas von Aquin. Die vermeintlich revolutionäre Idee ist eine Obsession: die Trennung zwischen Natur und Mensch. Sie ist keineswegs neu oder postmodern, im Gegenteil, sie wurde schon vor langer Zeit formuliert. Die Abweichungen sind ebenfalls sichtbar und werden seit langem kritisiert. Und sie sind widersprüchlich.

Ein Mann der reinen Freiheit?

"Die Natur des Menschen ist es, keine Natur zu haben". Die berühmte Oratio de hominis dignitate (1486) von Pico della Mirandola stammt aus der Zeit vor etwas mehr als 600 Jahren: Gott selbst schenkt Adam (der übrigens ohne Eva erscheint) die Freiheit der völligen Selbstbestimmung. Während alle Geschöpfe ihre eigene Realität als göttliches Gesetz in sich tragen, ist der Mensch als einziger ohne Gesetz geschaffen. Im Zentrum der Welt stehend, hat Adam bedingungslose Macht über sich selbst und alle anderen miterschaffenen Wesen. Unerschrocken formuliert er dies als ein Tun, ein Haben, eine Unterwerfung der gesamten Schöpfung unter die Ordination des einen Hauptgeschöpfes. Gemäß dem ihm erteilten Auftrag nimmt er als "zweiter Gott" Allmacht an. Dieser "in Menschenfleisch gekleidete Gott[1] wird sein eigener Schöpfer.

Picos Entwurf der Freiheit des Menschen (= des männlichen Menschen) berücksichtigt jedenfalls nicht die Kehrseite einer solchen Machtzuweisung; er bleibt völlig naiv.

Es ist natürlich überraschend, dass der Mensch trotz des Freiheitsrausches durch Naturwissenschaft und Technik in die Enge getrieben wurde.

Andererseits: Die Natur als Maschine? Der "gemessene Mensch

Die behauptete Macht wurde zunächst auf die äußere Natur ("fabrica mundi") ausgedehnt, auf räumliche, materielle Dinge, die den neu entdeckten Gesetzmäßigkeiten unterworfen wurden, um "uns zu Herren und Meister der Natur zu machen".[2]. Heute haben wir mit den Folgen zu kämpfen.

Aus diesem "Herrschaftswissen" ergab sich schnell eine zweite Möglichkeit: Auch die "äußere" Seite des Menschen wurde mit den Methoden berechnet, die man sich auf plastische und noch "unschuldige" Weise mit Hilfe des "vermessenen" Menschen von Leonardo und Dürer angeeignet hatte, in dessen Körper die Maße der goldenen Zahl eingeschrieben sind.[3]. Im Siegeszug des geometrisch-mathematischen Denkens wird der Körper als "res extensa" schließlich mit dem System einer Maschine verglichen: "l'homme machine" von La Mettrie (1748). Der menschlichen Maschine fehlten nur die menschlichen Augen, wie in E.T.A. Hoffmanns Coppelia, der menschlichen Puppe. Auch hier haben wir es mit den Folgen zu tun: Transhumanismus, die Vermischung von Mensch und Roboter. Freiheit bedeutet dann, dass wir uns mit Chips und Ersatzteilen ausstatten lassen.

Seit etwa 500 Jahren betrachtet die Moderne die Natur als eine Art mechanische Werkstatt, und auch der Mensch fungiert als eine natürliche Maschine unter anderen natürlichen Maschinen. Die Neurobiologie, die jüngste Disziplin, bekräftigt bei einigen ihrer Vertreter eine sehr einfache Aussage: Denken ist nichts anderes als die Verschaltung von Gehirnsynapsen. Auch der Einwand, dass, wenn alles bestimmt ist, dies in erster Linie für den Forscher selbst gilt, stört nicht. Das Gleiche gilt für die Aussage eines Nobelpreisträgers für Chemie, dass der Mensch nichts anderes als Chemie ist. Die Freiheit wäre dann vollständig aufgegeben worden.

Im Gegenteil, die Freiheit triumphiert auch in umgekehrter Richtung: in der Rebellion gegen das eigene Geschlecht. Einem verzerrten Bild der Natur entspricht ein verzerrtes Bild der Freiheit.

Freiheit: der entbürgerlichte Mensch

Seit Judith Butlers "Gender Trouble" von 1990 weist die Kultur auf ein überraschendes Extrem hin: die Transformation bis hin zur Auflösung des Körpers im Cyberspace, im virtuellen oder sogar realen medizinisch-technischen Raum. Schon der Unterschied zwischen "Leib" und "Körper" kann als roter Faden in diesem Spannungsfeld dienen, denn beide Begriffe verweisen auf eine unterschiedliche Wahrnehmung des "Ich". So wird "Körper" vorwiegend als quantitativ-mechanische Hülle verstanden, während "Leib" den bereits belebten, lebendigen Körper bezeichnet. Die "Körper" sind veränderbar, bearbeitbar, sogar ihre Teile sind austauschbar, d.h. sie können unabhängig von ihrer vorher gegebenen "Natur" gemacht werden; "Mein Körper ist meine Kunst". Der "Körper" wird zu einem Ort des Protests gegen eine nicht-autonom konstruierte Identität. Die Utopien der fluiden Identität beziehen sich auf die totale Selbstgestaltung des "Ich".

Auch das Sexualleben wird "inszeniert"; das Ich trägt die jeweilige Geschlechtsmaske, mit dem Ergebnis, dass "diese Maske kein Ich beherbergt" (Benhabib, 1993, 15). Was getragen wird, ist das "Gender Nauting", das Navigieren zwischen den Geschlechtern. Der Mensch ist seine eigene Software, die jenseits von Körper und Geschlecht verwurzelt ist. Das ist die Richtung der Gender-Debatte: Sie lässt das biologische Geschlecht ("sex") im zugeschriebenen Geschlecht (kulturell, sozial, historisch - "gender") verschwinden. Anstelle der Bestimmung durch die Natur wird eine freiwillige Selbstwahl angeboten: Ist eine Frau bereits eine Frau, oder wer "macht" eine Frau zur Frau und einen Mann zum Mann? Ohne Widerstand, ohne Willen, bietet sich der Körper als "vor-sexueller Körper" an. Das "Ich" kennt keine Inkarnation.

Nun müssen wir einen roten Faden durch diese Widersprüche finden. Sie lautet: Es gibt keine Trennung zwischen Natur, Kultur und Mensch. Einfacher ausgedrückt: Es gibt keine Trennung zwischen Körper und Sex, zwischen Liebe und Dauer, zwischen Lust und Kindern.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Kritik der halbierten, auf die Mechanik reduzierten Natur, aber auch der halbierten, auf die reine Konstruktivität bezogenen Kultur.

Der Mensch ist in Wirklichkeit woanders verankert: in Richtung des Göttlichen. Die menschliche Natur, und noch mehr die Kultur, lebt "auf". Die Größe der Natur ("natura") besteht darin, dass sie eigentlich "nascitura" heißt: das, was geboren werden will. Und es ist die Natur, die die freie Teilhabe des Menschen an seinem "Gegenüber" anstrebt; sie will, dass er seine Orientierung bejaht und verwirklicht. Das Geschöpf ist zum Ursprung hin erschaffen worden, es trägt sein Zeichen, seine Heimat ist dort, wo es herkommt.

Das lässt sich bereits am Motor des Sex ablesen. Es ist der Verlust von sich selbst im anderen, es ist die Grammatik der fleischgewordenen Liebe. Der Körper ist Geschenk, der Sex ist Geschenk, er ist Grund und Ursprung (Ur-Sprung) dessen, was wir nicht selbst tun können, der Leidenschaft des Menschseins, des enormen Impulses zur Selbsthingabe. Bereichert durch die Dualität von männlich und weiblich, und durch sie verarmt; uns selbst nicht genügend, abhängig von der Aufmerksamkeit des anderen, auf die Erlösung des anderen wartend, die aus dem Bereich des Göttlichen kommt und in ihrer höchsten und fruchtbarsten Form dorthin zurückführt (Gen 1, 27ff). Was im griechischen Denken ein "Mangel" ist, der Mangel an Einheit, wird im biblischen Denken zur Freude an der Dualität.

Sex ("Geschlecht") kann auch im wörtlichen Sinne als "Geschlachtetsein" oder "Hälftigsein" verstanden werden. Die Brutalität des Nur-Sexuellen, des "Flussgottes des Blutes [...] ach, der das Unerkennbare säuft" (Rilke, 1980, 449) muss also vermenschlicht werden. Es ist schwierig, an den Körper zu denken, ohne ein suggestives und anderes Anderes. Aber weder die "Natur" (Biologie) noch die "Kultur" (Selbstgestaltung) wird von selbst "geheilt". Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, den göttlichen Horizont zu kennen, die Leitlinien, die von ihm ausgehen. Nur dann kann man "ethisch handeln", d.h. "frei der Ordnung des Seins entsprechen" (Thomas von Aquin).

Spannungsverhältnis zwischen Natur und Kultur

Die Idee der Selbstbestimmung des Menschen ist an sich nicht falsch und auch nicht moralisch falsch. Sie beruht auf der ebenso merkwürdigen wie gefährlichen Tatsache, dass der Mensch unter den anderen Lebewesen tatsächlich eine Sonderstellung einnimmt, auch was sein Geschlecht betrifft. Auf der positiven Seite: Er hat zwar nicht die Reiz-Reaktions-Sicherheit eines Tieres, aber er hat Instinktfreiheit und damit Freiheit gegenüber der Welt und sich selbst; und auch das volle Risiko, sich und andere zu gefährden. Gleichzeitig bildet die Freiheit die kreative Flanke, um die Welt und den Menschen zu gestalten. Der Mensch ist eine Realität voller Spannungen, die zwischen der gegebenen "Natur" und dem entgegengesetzten Extrem der Veränderung, des Werdens, der Zukunft, der "Kultur" angesiedelt ist. "Sei in dem, was du bist", lautete die Formel des orphischen Spruchs; doch was so einfach klingt, ist ein lebenslanges Abenteuer. Abenteuer, weil es weder eine "geprägte" Natur noch eine beliebige "Kultur" gibt, sondern beide in einem lebendigen Verhältnis zueinander stehen: zwischen der Grenze der Form (dem "Glück der Form") und der Kultur ("dem Glück des neuen Seins").

Ein Tier hat sein Geschlecht und muss es nicht formen; daher ist seine Sexualität von Natur aus sicher, frei von Bescheidenheit und aus funktionaler Sicht eindeutig auf Nachkommenschaft ausgerichtet. Der Mensch ist und hat seine Sexualität und muss sie gestalten: Sie ist nicht einfach naturgegeben, sondern kulturell bedingt und wegen der Möglichkeit des Scheiterns von Bescheidenheit geprägt; außerdem ist sie nicht unbedingt an Nachkommenschaft gebunden. In der Sexualität eröffnet sich ein Raum für Leistung und Scheitern, der auf der unausweichlichen Spannung zwischen dem Trieb (dem natürlichen Bedürfnis) und dem Selbst (der Freiheit) beruht. Inkarnation im eigenen Körper, seine Anpassung an den eigenen Körper, "Gastfreundschaft" (hospitalité, Levinas) gegenüber dem anderen Geschlecht sind die Schlüsselworte. Es ist kein Hinweis auf Rebellion, Neutralisierung, Nivellierung oder "Missachtung" der erhaltenen Disposition.

Die Dualität des Geschlechts ist also der kulturellen Verarbeitung nicht nur zugänglich, sondern weist sogar darauf hin. Aber die Sexualität muss kultiviert werden, aber als eine Gegebenheit der Natur (was könnte sonst gestaltet werden?). Kultivieren bedeutet nicht, sich ihr zu unterwerfen oder sie zu beseitigen. Beides lässt sich an den beiden unterschiedlichen Zielen der Sexualität demonstrieren: erotische Erfüllung im anderen und generative Erfüllung im Kind, wofür in jedem Fall zwei unterschiedliche Geschlechter vorausgesetzt werden müssen. Das Kind gehört zur erotischen Rechtfertigung des Menschen (vgl. Fellmann, 2005). Und auch das Kind selbst ist nicht etwas Neutrales, sondern tritt als "Höhepunkt" desselben Liebesakts in die Doppelexistenz ein.

So öffnet sich die Natur = nascitura zur Freiheit

Anstelle einer verzerrten Natur ist die Natur also eine gegebene und bedeutet zugleich "nascitura": ein Werden, eine Entfaltung der gegebenen Disposition. Von der heutigen Mechanisierung der Natur ist man noch weit entfernt, und das gilt auch für das Bauen.

"Mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht nur das Telos des eigenen Lebens verworren und undurchsichtig. In dem Moment, in dem der Mensch das Bewusstsein seiner selbst als Natur aufgibt, werden alle Ziele, für die er sich am Leben hält, leer [...]" [...].[4].

"Was die Moderne Natur nennt, ist letztlich eine Halbwirklichkeit. Das, was sie Kultur nennt, ist etwas Dämonisches und Zerrissenes, in dem sich Sinn immer mit Sinnlosigkeit paart, Schöpfung mit Zerstörung, Fruchtbarkeit mit Tod, das Edle mit dem Unbedeutenden. Und es musste eine ganze Technik des Übersehens, Verbergens und Verblendens entwickelt werden, damit der Mensch die Lüge und die Angst vor dieser Situation ertragen kann."[5].

Geben wir also die Lüge auf.

Wer ist die Person? Etwas Doppeltes

Persona bedeutet etwas Zweifaches: in sich selbst zu bestehen und über sich selbst hinauszuwachsen. "Persona' bedeutet, dass ich letztlich in meinem Selbstsein von keiner anderen Instanz besessen werden kann, sondern dass ich mir selbst gehöre [...], ich bin mein eigener Zweck" (Guardini, 1939, 94). Dieses In-sich-selbst-sein unterstreicht, dass ich auf originäre und nicht auf derivative Weise zu mir selbst gehöre.

Eine Person zu sein, ist kein bloßer Besitz von sich selbst. Augustinus sprach von einer Selbstbeherrschung, von einer "anima in se curvata", die in sich selbst zusammenfällt.[6]. Vielmehr geschieht es, dass ich in der Begegnung mit einem anderen Ich erwache, das auch zu sich selbst gehört und dennoch zu mir kommt.

Nur in der Begegnung findet die Bewahrung des Selbst, die Verwirklichung des Selbst statt, insbesondere in der Liebe. "Wer liebt, ist immer auf dem Weg in die Freiheit, in die Freiheit von seiner wahren Knechtschaft, d.h. von sich selbst" (Guardini, 1939, 99). Sie ergibt sich aus der konstitutiven Spannung, die vom "Ich" zum "Du" geht: im Transzendieren, in der Hingabe an das Teilen, auch in der Körperlichkeit, und auch in der Spannung zu Gott. In einer solchen Dynamik gibt es keine Selbsterhaltung mehr, die das neutrale Subjekt-Objekt-Verhältnis zementiert, wie wenn ein Stein auf einen anderen Stein trifft, und eine Selbstentblößung beginnt: Die Person schwingt in der Person und von der Person mit, gibt sich dem Unanfechtbaren hin oder öffnet sich auch dem Unerschöpflichen.

Sich dem Anderssein des Anderen hingeben

Aus christlicher Sicht verliert die Selbstzugehörigkeit nicht an zentraler Bedeutung, im Gegenteil, sie lässt sich überzeugender begründen: Der Mensch kann über sich selbst hinausgehen, sich öffnen, weil er bereits zu sich selbst gehört. Wir müssen diese These vertiefen, weil sie ein entscheidendes Merkmal der Moderne in Frage stellt: die Autonomie.

Aus christlicher Sicht ist die Person der Höhepunkt eines unterbewerteten oder sogar verleugneten "Existenziellen": eine Beziehung ist die Aktivierung der Selbstzugehörigkeit. "Der Mensch ist kein in sich geschlossenes Wesen. Im Gegenteil, er existiert so, dass er über sich selbst hinausgeht. Dieses Hinausgehen aus sich selbst geschieht fortwährend schon in der Welt, in den verschiedenen Beziehungen zu Dingen, Ideen und Personen [...]; in Wirklichkeit findet es jenseits der Welt, bei Gott statt" (Guardini 1939, 124).

Aber warum entkräftet mich das nicht in meinem eigenen Ich? Denn die Person vor mir muss auch als Existenz und als über sich selbst hinausgehend gedacht werden. Dazu braucht es aber nicht nur zwei Personen, sondern zwei Geschlechter - als gegenseitige und unergründliche Fremdheit, unergründlicher Rückzug, auf das Körperliche, auf das Seelische, auf das Geistige; gerade in der sexuellen Liebe, die den Körper des anderen erfährt, findet die Transzendierung in das Anderssein des anderen Geschlechts statt und nicht nur eine narzisstische Begegnung mit sich selbst.

Nur im anderen Geschlecht wird der wahre Unterschied wahrgenommen, den ich mir nicht aneignen kann, der mich nicht widerspiegelt: die Frau als ständiges Geheimnis für den Mann. Wer diesen tiefgreifenden Unterschied vermeidet, vermeidet das Leben.

Könnte die antike Vision der Genesis - jenseits aller letztlich wirkungslosen Morallehren - heute neu überdacht werden, dass in der Kühnheit der beiden Geschlechter die göttliche Dynamik im Zentrum der Begegnung steht, dass das beispiellose Leben Gottes selbst das Spiel der Geschlechter hervorbringt und es als Abbild dessen geschaffen hat, was alle Bilder übertrifft? Und dass von dort aus das Sich-Öffnen für das andere Geschlecht die göttliche Spannung zum Ausdruck bringt?

Auch hier finden wir das Doppelte in der Person: Selbstbesitz (Souveränität) und Selbsthingabe sind nicht ausgeschlossen, weder in der göttlich-trinitarischen Beziehung noch in der menschlichen Liebe. Liebe ist Selbstverlust und Selbstüberwindung zugleich. Der Mann ist nicht Selbstversorger und die Frau ist Selbstversorgerin, wie es in einer Anmerkung heißt. Beim Menschen bilden nicht zwei Hälften ein Ganzes, sondern zwei Hälften ergeben ein Ganzes. Jedes Geschlecht entspricht in erster Linie einer Person und muss von dieser ein Leben lang geformt werden. Die heutige Kultur neigt dazu, aus Subsistenz fälschlicherweise Autonomie zu machen und aus Hingabe Kapitulation. Sie wird zur Kapitulation, wenn sie den anderen, die anderen, nur als Sexualobjekt oder in einer "Rolle" sieht, nicht aber als Person aus Fleisch und Blut. Es ist kein Zufall, dass die deutschen Wörter "Leib", "Leben" und "Liebe" von der gleichen Wurzel abstammen. Wer den Körper zu einer "Zuteilung" macht, zu einem Genuss für sich selbst im anderen, unterbestimmt das Leben. Das Leben lässt den Menschen in sich selbst verankert sein, aber gleichzeitig drängt es ihn immer wieder über sich hinaus, hin zum anderen Geschlecht. Und die extreme Provokation des biblischen Denkens geht sogar über den Tod hinaus, hin zu einem neuen Körper. Die Auferstehung des Leibes, meines Leibes, das heißt, als Mann oder als Frau, ist die Botschaft der Freude.

Letzter Schritt: Caro cardo

Die große Herausforderung ist daher die Inkarnation Gottes: Kann Gott wirklich Körper und Geschlecht annehmen? Ja, er ist ein Mann geworden, geboren von einer Frau. Wenn unser Gehör nicht so stumpf wäre, wäre das ein Riesenspaß. Der Sohn Gottes und Marias, im Gegensatz zu allen Idealisierungen einer körperlosen Gottheit, ist der eigentliche Unterschied zu anderen religiösen Traditionen, einschließlich des Judentums. "Caro cardo": Das Fleisch steht im Mittelpunkt. Auf diese Weise wird der Leib in einem neuen und unerschöpflichen Licht gesehen (vgl. Henry, 2000), bis zur leiblichen Auferstehung zu einem Leben ohne Tod. Auch die Kirche wird als Leib gesehen, die Beziehung Christi zur Kirche ist bräutlich-erotisch (Eph 5,25), und die Ehe wird zum Sakrament: ein Zeichen der Gegenwart Gottes in den Liebenden. Im Sakrament der Ehe muss auch die Sexualität auf diese Gegenwart hin erzogen werden, aber nicht, um sie zu zähmen oder zu beugen, sondern um sie zu befähigen, ihre wahre und wirksame Ekstase zu erreichen. Natürlich kann der gute Ausgang einer Ehe nicht durch das Sakrament garantiert werden, aber die Elemente, unter denen das schwierige Gleichgewicht erreicht werden kann, lassen sich in christlichen Begriffen ausdrücken: Ihr allein; ihr für immer; von euch ein Kind. Es handelt sich nicht mehr um eine naive Naturauffassung, sondern um die schöpferische Umwandlung der Natur in eine kultivierte, akzeptierte und endliche Natur. Das Christentum (und das Judentum) verherrlicht niemals nur die primitive Natur; sie soll in den Raum des Göttlichen gehoben und dort geheilt werden. Ebenso wird Eros in den Bereich des Sakralen gestellt: in das Sakrament. Und auch die Zeugung und die Geburt werden in den Bereich des Heiligen gestellt: Sie sind Gaben, die im Paradies verliehen werden (Gen 1,28). "Sex ist die Feier des Lebens" (Thomas Mann).

Die wahre menschliche Natur des Gottmenschen erlöst die leidende menschliche Natur. Ihm zu folgen bedeutet, die beschädigte menschliche Natur in seinen Radius zu bringen, sie dort zu vervollkommnen, wo wir nur wechselnde Neigungen haben, wo es angeblich keine gemeinsame Natur des Menschen gibt, sondern nur "Freiheit", wo es nur Entscheidungen von irgendjemandem für irgendetwas gibt, aber keine substantielle Befreiung unserer Natur. Die Menschwerdung Jesu wäre dann überflüssig, und dasselbe gilt für seinen Tod und seine Auferstehung. Simchat Tora, dein Gesetz ist meine Freude: das Gesetz meines Körpers, meines Lebens, meines Vergnügens, das der Schöpfer auf meinen Körper geschrieben hat. Es ist nicht der freie Wille, der uns erlöst, sondern sein Gebot.

Körper, Liebe, Vergnügen. Diese drei Säulen sind in der Natur begründet, in der Kultur geformt und werden in der persönlichen Beziehung schön und menschlich: Ich habe nur dich lieb, für immer; ich freue mich auf unser Kind. Das ist die Antwort, die wir uns gegenseitig geben, und die Antwort, die wir von demjenigen hören wollen, den wir lieben. Aber diese Reaktion ist übertrieben, wenn sie nicht in unserer Natur begründet ist, wenn sie nicht in der Hoffnung auf göttliche Hilfe erfolgt. Kein Körper, keine Liebe, kein Vergnügen: das sind heute schon Erfahrungen einer Cyberwelt, die uns ständig Vergnügen bietet, virtuell und körperlos, real ohne einen realen Anderen oder mit wechselnden Anderen oder mit Vinyl-Sexpuppen, virtuell ohne Kinder: nur in der Prävention und Verhütung. Eine Liebe, die nicht von Dauer sein will, ein Vergnügen, das ich nur für mich selbst suche, ein Körper, den ich mir selbst forme..., sind nur Fragmente eines Ganzen, das den Sinn vernichtet.

Bleiben wir bei den All. Wiederum sagt Chesterton: "Es ist leicht, verrückt zu sein; es ist leicht, ein Ketzer zu sein. Es ist immer leicht, sich von der Welt mitreißen zu lassen: Es ist schwer, den eigenen Kurs zu halten. Es ist immer leicht, ein Modernist zu sein, genauso wie es leicht ist, ein Snob zu sein. In eine der durch Irrtum und Übertretung aufgestellten Fallen zu tappen, die eine Modeerscheinung und Sekte nach der anderen in den geschichtlichen Weg des Christentums gelegt hat, das wäre leicht gewesen [...] Sie alle vermieden zu haben, ist ein entzückendes Abenteuer; und der himmlische Wagen fährt in meiner Vision donnernd durch die Jahrhunderte. Die langweiligen Irrlehren stolpern und fallen flach auf den Boden, aber die wilde Wahrheit steht erstaunlich aufrecht".

Literaturverzeichnis

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[1] Über die Würde des Menschen, trans. H. W. Rüssel, Amsterdam 1940, 49f.

[2] René Descartes, Discours de la méthode, 6.

[3] Vgl. die doppelte Bedeutung des Titels: Sigrid Braunfels u. a., Der "vermessene Mensch". Anthropometrie in Kunst und Wissenschaft, München 1973.

[4] Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1971, 51.

[5] Romano Guardini, Der Mensch. Umriß einer christlichen Anthropologie, (unveröffentlicht), Archiv Kath. Akademie München, Typoskript S. 45.

[6] Romano Guardini hat in diesem Zusammenhang die Gefahr der Selbsterziehung beobachtet; vgl. Guardini: Der religiöse Gehorsam (1916), in: ders., Auf dem Wege. Versuche, Mainz 1923, 15f, Anm. 2: "Es widerspricht dem katholischen Geist, zu viel von Persönlichkeit, Selbsterziehung usw. zu sprechen. So wird der Mensch ständig auf sich selbst zurückgeworfen, er zieht sich auf sein eigenes Ego zurück und verliert so den befreienden Blick auf Gott. Die beste Erziehung ist, sich selbst zu vergessen und auf Gott zu schauen; dann "ist" und "wächst" der Mensch in der göttlichen Atmosphäre. [...] Nichts zerstört die Seele so tiefgreifend wie der Ethizismus. Was sie beherrschen und erkennen muss, sind die göttlichen Tatsachen, die Realität Gottes, die Wahrheit. Dies ist der Anfang und das Ende aller Bildung, das Hervortreten des Selbst.

Der AutorHanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Ratzinger-Preis 2021

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